Gemeinde neu denken?

Unsere Kirchen

Im Presbyterium stellen wir uns derzeit die Frage, warum Menschen aus der Kirche austreten. Ein schwieriges Thema, denn einerseits sind wir davon überzeugt, dass unsere Gemeinde in Bergerhausen funktioniert und unsere Angebote auf Resonanz stoßen. Andererseits müssen wir feststellen, dass der bundesweite Trend der kontinuierlichen Kirchenaustritte auch in unserer Gemeinde längst angekommen ist.

Die Studie „Dimensionen der Kirchenbindung“*

Warum ist das so? Wir sind nicht die ersten, die sich diese Frage stellen, im Gegenteil – seit vielen Jahren wird dieses Thema in gesellschaftlichen Studien beleuchtet. Als eine Art Resümee kann die Metastudie „Dimensionen der Kirchenbindung“* angesehen werden, in der 46 Studien zur Austrittsproblematik wissenschaftlich ausgewertet und verdichtet wurden.

Hierzu gehören Studien, die von den großen Kirchen, Landeskirchen und Bistümern in Auftrag gegeben wurden, genauso wie Studien von Meinungsforschungsinstituten wie Allensbach oder die Shell-Studie.

Die Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“ ist dabei alles andere als trivial und eindimensional, denn die Gründe für einen Kirchenaustritt sind individuell sehr verschieden und die Entscheidung stellt sich häufig als ein sehr komplexer Prozess dar. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, haben die Autoren der Metastudie sieben Dimensionen der Kirchenbindung definiert: Die individuelle, interaktive, gesellschaftliche, liturgische, strukturelle, finanzielle und kommunikative Dimension. Diese Dimensionen stehen für die unterschiedlichen Aspekte, die Menschen an Kirche und Gemeinde binden können. In diesem Schema lassen sich aber auch die möglichen Irritationen verorten, die zu einem Austritt führen können.

Besondere Bedeutung für die Bindung an eine Kirche hat oft das konkrete gesellschaftliche oder soziale Engagement der Kir-hen und der Gemeinde vor Ort. Auch das Bedürfnis, an Kasualien wie z.B. Taufen, Konfirmationen, Trauungen oder Beerdigungen teilzunehmen, führt zu einer stärkeren Bindung.Wenn auch der Anlass für eine Austrittsentscheidung oft klar benannt werden kann, liegen die Gründe meist tiefer und haben mit einer langjährigen Entfremdung zu tun. So haben die Autoren ermittelt, dass sich z.B. ein Drittel der Ausgetretenen nie wirklich in ihrer Kirche zu Hause gefühlt hat. Es gibt aber auch überraschende Erkenntnisse: So ist Religiosität zwar ein bedeutender Grund, in der Kirche zu bleiben, trotzdem ist der Glaubensverlust kein bestimmender Austrittsgrund. Dagegen geben ehemalige Kirchenmitglieder häufig an, dass man auch ohne Kirchenmitgliedschaft Christ sein könne.

Die Situation in der Evangelischen Kirche

Quelle: EKD

Unerwartet ist auch, dass die Austrittswellen in beiden Kirchen absolut parallel laufen, auch wenn die Situation der Katholischen und Evangelischen Kirche sehr unterschiedlich und von ganz verschiedenen Themen getrieben ist. Das zeigt, dass es hier offensichtlich eher um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen geht. In einer Prognose von 2017 geht die EKD davon aus, dass bis 2060 die Zahl der Mitglieder um 52% zurück-gehen wird. Neben den Kirchenaus-tritten, die in diesem Zeitraum mit 28% erwartet werden, gibt es auch die Auswirkungen der demografischen Entwicklung, die weitere 24% zum Rückgang beisteuern.

Was bedeutet das für unsere Gemeinde?

Natürlich kann eine Stadtteilgemeinde keinen gesellschaftlichen Trend umkehren und sich auch nicht gegen den demografischen Wandel stellen. Auch auf Entscheidungen der Landeskirche oder EKD haben wir nur wenig Einfluss.Aber es wäre nicht das evangelische Kirchenverständnis, die Verantwortung für die eigene Entwicklung nach oben zu delegieren oder äu-ßere Umstände als Entschuldigung anzuführen, um nichts zu tun. Denn der Metastudie kann man nicht nur die Auswirkungen eines übergreifenden gesellschaftlichen Trends entnehmen. Man findet darin auch eine Vielzahl von Ansatzpunkten, wo Gemeinde vor Ort Einfluss nehmen kann. Ganz sicher werden wir als Gemeinde das Modell Volkskirche in seiner hergebrachten Form nicht retten können. Vielleicht müssen wir stattdessen anfangen, Gemeinde neu zu denken.

Denn schließlich gibt es Handlungsfelder, in denen wir sehr wohl aktiv werden und gestalten können, wenn wir uns bewusst machen, was Gemeindemitglieder von einer Gemeinde erwarten und welche Verantwortung eine Gemeinde für die Gemeindeglieder und den gesellschaftlichen Nahbereich hat. Wir können Menschen ein Zu-hause bieten für ihre geänderten spirituellen Bedürfnisse oder für ihre Bereitschaft nach sozialem Engagement. Wir können Haltung zeigen in Fragen, die die Gesellschaft beschäftigen. Und wir können uns für diejenigen einsetzen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Im Presbyterium stehen wir am Anfang dieser Diskussion, die wir auch in die Gemeinde tragen möchten.

*Studie „Dimensionen der Kirchen-bindung“: Magisterarbeit von Björn Szymanowski, Benedikt Jürgens, Matt-hias Sellmann, Katholische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, 2017, Veröf-fentlicht im Buch „Kirchenaustritt – oder nicht?“, Herder-Verlag

Olaf Kudling