Bildung für syrische Flüchtlingskinder im Libanon

Ein Schulprojekt unter immer schwierigeren Bedingungen

Die Autorin des Berichts, Dr. Chris Lange, lebte von 2009-2018 mit ihrem Mann, Jonas Weiß-Lange, im Libanon. Er war als Pfarrer in die deutsch-sprachige Evangelische Gemeinde nach Beirut entsandt; sie arbeitete als die Sozialarbeiterin der Gemeinde. Die Folgen des syrischen Kriegs im Libanon haben sie hautnah miterlebt. Auch heute noch leben dort über 850.000 offiziell bei der UN registrierte syrische Flüchtlinge unter extrem schlechten Lebensbedingungen im Land – dazu ist eine unbekannte Anzahl an Geflüchteten, die nicht registriert sind.

Persönlicher Rückblick – eine Momentaufnahme

Im März vor 10 Jahren begannen die Demonstrationen in Syrien, voller Hoffnung und Aufbruchsstimmung! Ebenfalls voller Hoffnung erwarteten wir in Beirut, wie viele andere in der ganzen Region, die erste Rede von Bashar Al-Assad – völlig überzeugt davon, dass er gar nicht anders könne, als einzulenken. Wie sehr wir uns getäuscht hatten! Der Aufbruch (uprising) mündete in einen schrecklichen Krieg des Regimes gegen seine Bürger. Seither wurden an die 400.000 Menschen getötet und über 12 Mio Menschen mussten fliehen, ca. die Hälfte davon ins Ausland, insbesondere in die benach­barten Länder Jordanien, Türkei, Libanon ….

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, war ein Zwischenfall in der Stadt Dara’a im Süden Syriens: eine Gruppe Jugendlicher hatte am 6. März 2011 Parolen wie „Das Volk will den Sturz der Regierung”, die sie aus dem Fernsehen von Tunis und Kairo kannten, an Wände gesprüht, waren von der Geheimpolizei verhaftet und im Gefängnis gefoltert worden. Das war zu viel. Seither wurde freitags nach dem Mittags­gebet demonstriert – friedlich. Nach dem Mittagsgebet deshalb, weil die Moschee der einzige Ort war, an dem sich in dem seit fast fünf Jahrzehnten unter Kriegs­recht stehendem Land mehr als fünf Personen versammeln durften.

Am Freitag, den 15. März 2011, fand die erste sehr große Demonstration in Damaskus statt – ebenfalls friedlich, wie überall im Land.

Am Freitag, den 1. April 2011, fand am späten Vormittag fand der seit langem geplante Konfirmations­gottesdienst zweier Söhne eines Mitarbeiters der deutschen Botschaft in Damaskus statt. Nicht wie sonst die deutschsprachigen Gottesdienste am Samstag –damit der Pfarrer zum Sonntagsgottesdienst wieder in Beirut sein konnte – und ausnahmsweise nicht in der Kirche im Untergeschoss bei den Franziskanerinnen, sondern in der kleinen, uralten Ananias-Kellerkapelle am östlichen Ende der Geraden Straße in der Altstadt, in der der Apostel Paulus getauft worden sein soll. Auch viele Kolleg*innen aus der Botschaft waren in die Kirche gekommen. Gleich nach dem Gottesdienst drängten uns die Sicherheitsleute der Botschaft, unverzüglich in die Autos zu steigen und wie geplant in den Vorort von Damaskus zu fahren, in dem die Familie der Konfirmierten wohnte und in die sie die Gemeinde eingeladen hatte. Auf jeden Fall schnell raus aus der Altstadt, denn auch an diesem Freitag waren wieder große Demonstrationen zu erwarten! Undenkbar, völlig unvorstellbar zu diesem Zeit­punkt, in welch ver­heerenden Bürgerkrieg sich dieses Aufbegehren der Bevölkerung entwickeln sollte.

Geflüchtete aus Syrien im Libanon

Der Libanon ist 10.450 qkm groß. Das ist deutlich weniger als ein Drittel der Fläche von NRW. Mit ungefähr 4,5 Mio Libanes*innen entspricht die Bevölkerungsdichte annähernd der in NRW.  Seit 1948 leben ca. 350.000 Palästinenser sowie eine unbekannte Anzahl Geflüchteter aus dem Irak, dem Südsudan und anderen Ländern sowie um die 200.000 Arbeits­migrant*innen (v.a. Hausangestellte) im Land.

Dazu kamen die Flüchtlinge aus Syrien: Im Juli 2011 wurde ihre Zahl auf 90.000 geschätzt. Im Mai 2013 waren bereits 470.000 beim UN-Hilfswerk für Flüchtlinge (UNHCR) registriert, davon ca. 40.000 palästinensische Flüchtlinge aus Syrien. Zu diesem Zeitpunkt kamen täglich um die 3.000 Menschen über die Grenze in den Libanon. Deutschland erklärte sich bereit, einmalig 5.000 aufzunehmen …. Im Oktober 2014 meldete UNHCR offiziell 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge im Libanon, plus mindestens noch einmal halb so viele nicht-registrierte.

Zeltlager

Bereits 2016 lebten laut UNHCR 70% der syrischen Flüchtlingsfamilien im Libanon unterhalb der Armutsgrenze. Das World Food Program meldet damals, dass nur 7% der Flüchtlings­haushalte ‚food secure’ seien also genug zu essen hätten. 2014 war es noch ein Viertel. Über die Hälfte der Geflüchteten sind Kinder, von denen jedoch nicht einmal die Hälfte zur Schule gehen kann.

Seit 2019 haben sich die Lebensbedingungen für die Menschen im Libanon dramatisch verschlechtert – sowohl für die Geflüchteten als auch für die Libanesen. Inzwischen leben 55% der libanesischen Bevölkerung an der Armuts­grenze und 90% der syrischen in extremer Armut. Die Arbeits­losenquote bei den Libanesen stieg auf ca. 40%, die libanesische Lira hat seit Herbst 2019 ungefähr 90% ihrer Kaufkraft verloren, die Preise sind ins uner­mess­liche gestiegen, die Dollarreserven schmelzen dahin. Wahrscheinlich kann das Land bald die Einfuhr von Diesel (zur Stromerzeugung) und Lebensmittel (auch viele Grund­nahrungs­mittel wie Mehl müssen importiert werden), Medikamente etc. nicht mehr bezahlen. Dass unter diesen Voraussetzungen Spannungen und Konflikte zwischen den Geflüchteten und der libanesischen Bevölkerung wachsen, ist nicht verwunderlich. Dann am 4. August 2020 noch die verheerende Explo­sion im Hafen von Beirut, die die nahegelegenen Stadtteile stark verwüstete, über 200 Menschen tötete und 6.500 verletzte – und zu all dem seit März 2020 die Corona-Pandemie.

Zehn Jahre nach Beginn der Krise, die in diesen schrecklichen Krieg mündete, leben laut UNHCR immer über 855.000 offiziell registrierte syrische Flüchtlinge im Libanon, aber immer noch gehen Hilfsorganisationen, UNHCR und die Regierung davon aus, dass es insgesamt um die 1,5 Mio sind. Dass sich die Situation im Libanon (und auch in Syrien) in nächster Zukunft zum Besseren ändert, ist leider unwahrscheinlich. Deshalb ist unsere Hilfe unverändert wichtig – und genauso wichtig ist es, die Menschen dort nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, v.a. auch die Geflüchteten, deren Lebensumstände immer prekärer werden.

In den letzten Jahren ging die Anzahl der Flüchtlinge langsam, sehr langsam zurück: Einige konnten in andere Länder weiterziehen, einige kehrten nach Syrien zurück – auf eigene Gefahr: in ein Land, in dem 90% der Bevölkerung an und unter der Armuts­grenze und 60% ‚food insecure’ leben, in dem zahllose Schulen, Krankenhäuser und andere Infrastruktur zerstört wurde, in dem viele, die geflohen sind, enteignet wurden, in dem Hilfsgüter nur diejenigen erreichen, die dem Regime genehm sind, in dem Corona ungebrochen wütet, in dem das alte Regime weiter herrscht ….

Das Schulprojekt – auch unter Pandemiebedingungen

Im Dezember 2012 gründete Nimat Bizri, die unweit der Deutschsprachigen Evangeli­schen Gemeinde wohnt, in Privatinitiative ein Schulprojekt in der Bekaa-Ebene nahe der Grenze zu Syrien, das sie aus Spenden finanzierte. Der Unterricht fand am Nachmittag statt, nach dem Unterricht für die libanesischen Schüler*innen, deshalb: Nachmittagsschulen. Die Gebäude wurden somit doppelt genutzt. Es folgten weitere Schulen und 2016 das Bridging Program (Überbrückungsprogramm) für ältere Kinder, die noch nie oder schon lange nicht mehr die Möglichkeit hatten, eine Schule zu besuchen. Heute sind es drei Schulen für über 1.200 Kinder im Alter von 4-14 Jahren aus den umliegenden Flüchtlingslagern, in die das Bridging Program integriert ist. Über­wiegend Lehrer*innen aus Syrien, selbst Flüchtlinge, erteilen den Unterricht und erhalten dafür 400,- Dollar im Monat. Seit dem Schuljahr 2020/21 sind diese Schulen Teil des Nationalen Plans des Bildungsministerium gemeinsam mit UNHCR, UNICEF und vielen anderen Hilfsorganisa­tionen zur Integration aller bedürftigen und ausgegrenzten Kinder. Damit soll allen Kindern ermöglicht werden, den ihren Voraussetzungen und ihrem Wissensstand entsprechenden Unterricht zu erhalten, unabhängig von Alter und Herkunft. Das ist zwar eine tolle formelle Absicherung für die Nachmittags­schulen, aber sie geht nicht mit finanzieller Unterstützung einher. Das bedeutet, dass die Society for Social Support and Education (SSSE – Gesellschaft für Sozialhilfe und Bildung), die NGO, die Nimat Bizri und ihre Mitstreiter*innen inzwischen gegründet haben, zwar als Bildungsträger anerkannt ist, die Finanzierung jedoch vollständig alleine aufbringen muss ….

Im Klassenraum

Seit Beginn der Pandemie lief der Unterricht in den Nachmittagsschulen zum größten Teil online, zunächst über Whatsapp und YouTube, auf die die Lehrer*innen Unterrichts­videos einstellten, später auch mit einem speziellen Unterrichtsprogramm über ein Internet­portal. Zeitenweise, wenn erlaubt, kam jeweils die Hälfte der Kinder abwech­selnd in die Schule, die andere Hälfte bekam Aufgaben für zuhause. In vielen Flüchtlings­familien existiert zumindest ein Endgerät, meistens ein Mobiltelefon, mit dem sie den Kontakt v.a. zu ihren Familien aufrechterhalten und über das nun die Kinder beschult werden. Im Herbst 2020 spendete eine Schweizer NGO 45 und im Frühjahr 2021 eine deutsche NGO 160 Tablets. Insgesamt läuft der online-Unterricht überraschend gut – nicht zuletzt, weil die Lehrer*innen eine entsprechende Schulung an der Lebanese American University (LAU) erhalten hatten – ebenfalls online. Trotzdem ist es für mich ein mittleres Wunder, dass der Unterricht überhaupt und zudem so gut weiterläuft, angesichts der sehr un­günstigen Voraussetzungen und der miserablen Versorgungslage z.B. auch mit Strom. Für dieses Schuljahr steht die Finanzierung für die Schulen, aber wie es im kommenden Schuljahr aussehen wird, ist noch völlig ungewiss …!

Schülerin im Lockdown

Neben dem Betrieb der Schulen hat die SSSE die ganzen Jahre über nach Möglichkeit auch Nahrungs­mittelpakete und Bekleidung verteilt, für dringend benötigte medizini­sche Versorgung gesorgt und anderes mehr – alles, um die Situation der Geflüchteten wenigstens ein wenig erträglicher zu machen.

Dass sich die Situation im Libanon in nächster Zukunft ändert, und zwar zum Besseren, ist sehr unwahrscheinlich. Und auch in Syrien werden es weiterhin die Armen und Armgewordenen sein, die den Preis dafür bezahlen, dass Assad nach wie vor unangefochten an der Macht ist und inzwischen von allen einschlägigen Mächten zumindest geduldet wird.

Das bedeutet für die Society für Social Support and Education, dass sie und ihre „Nach­mittagsschulen” nach wie vor und auf unbestimmte Zeit dringend vonnöten sind.

Berlin, 26. Mai 2021, Dr. Chris Lange