Impulstext von Rainer Teuber zum Gottesdienst in der Johanneskirche am 17. Juli 2022
„VIELFALT IST UNSERE STÄRKE“
VON SCHUBLADEN, MENSCHEN UND WARUM GOTT FAN VON VIELFALT IST
Am Anfang hat Gott Himmel und Erde erschaffen.
Da war die Erde noch leer und ungestaltet
und Dunkelheit lag über der Urflut
und Gottes Geistkraft bewegte sich über dem Wasser.
Da sprach Gott:
„Licht werde“.
Und Licht wurde.
Gott sah das Licht: Ja, es war gut.
Und Gott trennte das Licht von der Dunkelheit.
Gott nannte das Licht „Tag“
und die Dunkelheit „Nacht“. Es wurde Abend und es wurde Morgen:erster Tag.
Dann sprach Gott:
„Es werde ein Gewölbe mitten im Wasser
und trenne Wasser von Wasser.“
Und so geschah es.
Und Gott nannte das Gewölbe „Himmel“.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
zweiter Tag.
Dann sprach Gott:
„Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, sodass das Trockene sichtbar werde.“
Und so geschah es.
Gott nannte das Trockene „Land“
und die Ansammlung des Wassers „Meer“.
Gott sah: Ja, es war gut.
Dann sprach Gott:
„Die Erde lasse junges Grün sprießen,
Gewächs, das Samen bildet,
Fruchtbäume,
die nach ihrer Art Früchte tragen mit Samen darin.“
Und so geschah es.
Gott sah: Ja, es war gut.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
dritter Tag.
Dann sprach Gott:
„Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein,
um Tag und Nacht zu trennen.
Sie sollen als Zeichen
für Festzeiten, für Tage und Jahre dienen.
Sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein,
um über die Erde zu leuchten.“
Und so geschah es.
Gott machte die beiden großen Lichter,
das große zur Herrschaft über den Tag,
das kleine zur Herrschaft über die Nacht,
und die Sterne.
Gott sah: Ja, es war gut.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
vierter Tag.
Dann sprach Gott:
„Das Wasser soll nur so wimmeln von Schwärmen lebendiger Wesen und Flugtiere sollen über der Erde am Himmelsgewölbe fliegen.“
Und Gott erschuf die großen Wassertiere und alle Lebewesen,
die sich fortbewegen nach ihrer Art,
von denen das Wasser wimmelt,
und alle gefiederten Tiere nach ihrer Art.
Gott sah: Ja, es war gut.
Es wurde Abend und es wurde Morgen:
fünfter Tag.
Dann sprach Gott:
„Die Erde soll Lebewesen aller Art hervorbringen,
Vieh,
Kriechtiere
das Wild der Erde, alle nach ihrer Art.“
Und so geschah es.
Gott sah: Ja, es war gut.
Dann sprach Gott:
„Wir wollen Menschen machen
als unser Bild, uns ähnlich!
Gott erschuf die Menschen als göttliches Bild,
als Bild Gottes wurden sie geschaffen.
Männlich und weiblich erschuf Gott sie.
Gott segnete sie. Gott sah alles an, was Gott gemacht hatte:
Und siehe: Ja, es war sehr gut.
(Gen 1)
Am Anfang war also Gott da. Mit voller Ideen, voller Schaffenskraft, Tatendrang und Kreativität.
In der ungestaltete Leere war einfach alles möglich. Zuallererst bringt Gott Licht in das Dunkel. Und es gab nicht nur Tag und Nacht, sondern auch Polarlichter, Abendrot, Morgengrauen, kurze Tage mit wenig Licht und lange Tage mit viel Licht. Es gab Tage, die sich durch eine Sonnenfinsternis verdunkeln und Nächte, die bei Vollmond beinahe taghell wurden und so weiter.
Dann wandte sich Gott dem Wasser z: Wasser vom Himmel: Regen, Niesel, Graupel, Schnee, Pulverschnee, Harsch, Hagel, Eisregen. Wasser auf der Erde: Meer und Land, aber auch das Wattenmeer, das manchmal Land ist und manchmal Wasser, Moore und Sümpfe, die irgendwie beides gleichzeitig sind, Seen, Flüsse, Inseln und Marschland.
Dann widmete sich den Himmelskörpern: Mond und Sonne, aber auch verschiedene Sternarten, Kometen, Asteroiden, Planeten aus Gestein, Planeten aus Gas, ganze Galaxien und Schwarze Löcher und so weiter. Herrjeh, was kam Gott da alles in den Sinn.
Dann tobte sich Gott an den Lebewesen aus: Pflanzen und Tiere, aber auch
Mikroorganismen wie Pilze, Urtierchen, Bakterien, Algen. Unfassbar, Gott da alles einfiel.
Gott konnte kaum an sich halten bei all den Farben und Formen und den unzähligen Kombinationen daraus. Bäume, Palmen, Gräser, Sträucher, Blumen und andere Gewächse: Schwämme, Seeanemonen und Korallen, die Pflanzen ähneln, aber zu den Tieren gezählt werden. Eierlegende Säugetiere wie das Schnabeltier. Vögel, die nicht fliegen können, dafür aber schwimmen wie die Pinguine. Fische, die schwimmen und durch die Luft gleiten können wie der Schwalbenfisch. Eine ganze Reihe von Tiere, die an Land und unter Wasser gleichzeitig leben und so weiter. Es sprudelte nur so aus Gott heraus.
Während Gott so schöpferisch wirkte und sich daran erfreute, was so alles entstand, kam Gott plötzlich ein weiterer Gedanke: Er schuf Menschen!
Und was gab es alles für Menschen: manche waren weiblich, manche männlich, manche waren weiblich und männlich zugleich. Von manchen konnte man denken, dass sie weiblich waren, aber sie waren männlich und umgekehrt. Manche waren weder weiblich noch männlich, sondern ganz anders oder hatten mit Geschlecht gar nichts am Hut. Unabhängig davon gab es große Menschen und kleine, aber auch mittellange. Alle hatten
unterschiedliche Körperformen, Haut-, Augen- und Haarfarben. Manche konnten sehr gut sehen, andere wiederum besaßen so feine Ohren, dass sie auch die Zwischentöne heraushören konnten. Und, und, und…. Und dann gab es auch noch alle möglichen Kombinationen und Varianten, sodass am Ende jeder Mensch ein einzigartiges Individuum wurde. Ein Individuum, welches es kein zweites Mal gibt und welches in keine einzige Schublade passte. Sie alle waren Gottes Bild.

Und Gott sah alles an, war überrascht, sehr angetan und berührt von all der Kreativität, von so viel Lebendigkeit und immenser Vielfalt. Und Gott sagte sich: Ja, das ist alles sehr gut. Das war damals so und das ist auch heute so.
Vielleicht fragen sich manche von Ihnen, was da jetzt noch kommen soll. Wie unglaublich vielfältig die Schöpfung ist, haben Sie möglicherweise schon immer gewusst. Wenn nicht – spätestens jetzt dürfte es Ihnen aufgefallen und bewusstgeworden sein.
Dennoch möchte ich weitere Gedanken mit Ihnen teilen.
Denn der Text aus dem ersten Buch der hebräischen Bibel wird bedauerlicherweise noch immer viel zu oft von Menschen, die sehr großen Wert darauf legen als christlich oder fromm bezeichnet zu werden oder Gottes Wille zu kennen, herangezogen, um zu behaupten, Gott habe eben ausschließlich Mann und Frau geschaffen. Und nur diese seien füreinander bestimmt. Menschen die gleichgeschlechtlich lieben und alle Menschen, die sich selbst nicht als Männer oder Frauen vorfinden bzw. wissen, dass sie Frauen sind, obwohl ihnen bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, oder wissen, dass sie Männer sind, obwohl ihnen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, verstoßen angeblich gegen die Schöpfungsordnung. Sie sind nicht Bestandteil von Gottes Plan!
Laut dem römisch-katholische Lehramt ist Genesis 1 so zu verstehen, dass Gottes Schöpfungshandeln darin bestünde, aus dem Chaos den Kosmos, also die geordnete Welt, macht. Und diese geordnete Welt wird nun mal bestimmt von Binarität. Es wird behauptet, Gott habe eine zweipolige, zweigliedrige Ordnung geschaffen: „Licht und Finsternis, Meer
und Land, Tag und Nacht, Pflanzen und Bäume, Fische und Vögel, alle »nach ihrer Art«“, schließlich auch den Menschen als Mann und Frau.
Gegen diese Interpretation lässt sich allerdings einiges anbringen.
1. Bei der Aufzählung der Zweierpaare wird diese bei genauem Lesen bereits nach „Land und Meer“ durchbrochen. Denn bei den Himmelskörpern ist neben den zwei „großen Lichtern“
– Mond und Sonne – zusätzlich auch von den Sternen die Rede. Bei den Tieren ist es mit der Zweigliedrigkeit sowieso vorbei. Und dann kommt der Mensch…
2. Es lohnt ein Blick in den hebräischen Text, denn dort ist an dieser Stelle gar nichts von Mann und Frau zu lesen, sondern von männlich und weiblich. Und schon liest sich der Text ein bisschen anders. „Männlich und weiblich erschuf er sie“, kann nämlich auch bedeuten, dass Menschen männlich und weiblich zugleich sind. Rabbi Yirmiyah ben Elazar, ein Bibelgelehrter des 2. Jahrhunderts nach Christus war sogar der Meinung, dass der erste Mensch androgyn von Gott geschaffen wurde.
3. Möglicherweise haben die Verfasser*innen von Gen 1 mit den Zweiernennungen in diesem Text ein in der Bibel durchaus gängiges poetisches Stilmittel verwendet, einen sogenannten Merismus. Die Nennung von zwei oder ein paar einzelnen Elemente dient dazu, auf ein vielfältiges Ganzes hinzuweisen. Das bedeutet, dass mit der Nennung von Tag und Nacht selbstverständlich nicht gemeint ist, Gott habe ausschließlich diese beiden gemacht.
Er schuf selbstverständlich auch alle anderen dazugehörigen Phänomene: die Mitte des Tages, genauso wie das, was zwischen Tag und Nacht liegt wie die Dämmerung, das Abendrot und Morgengrauen. Genauso verhält es bei der Aufzählung von Land und Wasser. Natürlich glauben wir, dass Gott auch die Mischformen von Land und Wasser – Moore, Sümpfe und das Wattenmeer – geschaffen hat.
Also: Wir müssen die Nennungen und Aufzählungen in dieser Schöpfungserzählung nicht als erschöpfend und abschließend verstehen. Das wäre ja so, als gäbe es nur das, was dort explizit genannt ist. Alles andere würde somit nicht zu Gottes Schöpfung gehören. Berücksichtigen wir auch die Zwischentöne lässt sich sagen:
Gott ist Fan von Vielfalt.
Gott ist Fan von Vielfalt, auch bei uns Menschen.
Im Buch der Weisheit heißt es: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast, denn hättest du es gehasst, hättest du es nicht geschaffen“ (Weish 11,24). Ich glaube an einen Gott, der so wirkmächtig ist, dass er – hätte er etwas gegen queere Menschen – diese gar nicht erst erschaffen hätte.
Ich mag ganz besonders Schnabeltiere, Pinguine, Korallen und alles andere, was nicht so ganz in unsere menschengemachten, allzu oft binären Schubladen passt, weil sie den Glauben in mir stärken, entgegen lehramtliche Verlautbarungen, als queerer Mensch wunderbar von Gott und nach Gottes Bild geschaffen zu sein.
Denn ich bin eine von den Personen, die es laut römisch-katholischem Lehramt nicht geben sollte, die in sich ungeordnet ist, die unfähig ist, eine Beziehung zu führen.
Ich bin schwul und so habe ich mich bei der Initiative #outinchurch im Januar dieses Jahres geoutet. Ich überschreite Kategorien, die sich manche Menschen geschaffen haben. Aber ist nicht ein jeder von uns immer mehr als das, was andere von uns sehen? Passen wir alle eigentlich nie wirklich in die Schubladen, in die wir gesteckt werden? Und vielleicht ist genau das etwas, was uns zu Gottes Bildern macht, weil auch Gott sich nicht fassen und festschreiben, sich nicht in Begriffe und Kategorien einpassen lässt. Bei Gott gibt es keine Schubladen.
In Bezug auf Geschlecht gibt es ganz unterschiedliche Erfahrungen und Selbstbezeichnungen trans*, non-binär, genderfluid, asexuell und viel, viel mehr…. Ja, mag sein, dass uns das kompliziert erscheint. In einer Gesellschaft, in der Zweigeschlechtlichkeit als grundlegendes Ordnungssystem alle Bereiche, Institutionen, Diskurse und Normen strukturiert und durchzieht, ist es auch tatsächlich gar nicht so einfach, eine abweichende sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Nichtbinarität überhaupt als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Nichtsdestotrotz. Es gibt sie! Und was vielleicht noch erstaunlicher ist: Es hat sie immer gegeben, auch wenn es andere Begriffe und Wörter dafür gab. Die hebräische Bibel und unsere jüdischen Geschwister kennen Menschen, die sich außerhalb geschlechtlicher Binarität bewegen in ihren Auslegungs- und Rechtstexten. Und auch Jesus werden in der Bibel Worte in den Mund gelegt, in denen er von Menschen spricht, die – in heutiger Terminologie gesprochen – keine cis Männer oder Frauen sind. Ich möchte Ihnen Beispiele dafür nennen.
Beginnen wir mit Joseph. Joseph war laut des Buches Genesis das Lieblingskind von Jakob, einem der Stammväter des späteren Volkes Israel. Jakob schenkte Joseph ein prächtiges und sogar selbst gemachtes buntes Ärmelkleid, welches als ketonet passim benannt wird. Joseph hatte seltsame Träume und zog sich den Hass der Brüder zu. Sie versuchten Joseph in einer Zisterne zu ertränken. Ich möchte die Geschichte an dieser Stelle aus zeitlichen Gründen nicht weiterverfolgen. Sie ist in Gen 37ff nachzulesen.
Was aber für unseren heutigen Kontext spannend ist: Das Wort, mit dem dieses bunte Ärmelkleid beschrieben wird, gibt es lediglich an einer witeren Stelle in der hebräischen Bibel. Darum ist es auch gar nicht so leicht, zu übersetzen oder zu sagen, um was genau es sich dabei handelt. Fest steht aber, dass an dieser anderen Stelle ketonet passim für ein Kleidungsstück verwendet wird, dass es Königstöchter, an besagter Stelle Tamar, die Tochter von König David, getragen haben. Daraus lässt sich schließen: Joseph hat ein Prinzessinnenkleid getragen.
Es gibt jüdische und christliche Interpretationen, die dies als Hinweis darauf sehen, dass Joseph sich nicht geschlechtskonform verhalten und gekleidet hat. Sie sehen darin auch eine Erklärung für den Mordversuch, den Josephs Brüder unternehmen. Eine erstaunliche Parallele zu unserer Zeit, denn auch heute noch erleben manche Menschen (familiäre) Gewalt oder werden gar mit dem Tod bedroht, wenn sie sich z. B. als queer oder transgeschlechtlich outen.
Ein Wort, das im Zusammenhang mit Geschlecht in der hebräischen Bibel immer wieder ist „saris“. Es wird unterschiedlich übersetzt und bezeichnet auch unterschiedliche Phänomene. Die griechische Entsprechung ist eunouchos. Als solche wurden durchaus unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kontexten beschrieben. Auch außerbiblisch ist das Wort belegt. Teilweise hat es eine dritte geschlechtliche Existenzweise bezeichnet, teilweise Menschen, die sich nicht ihrem zugewiesenen Geschlecht entsprechend verhalten haben, teilweise Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen bzw. Geschlechtsentwicklung, teilweise Menschen, die nicht zeugungsfähig waren. Biblische Schriften und jüdische Tradition kennen also Menschen, die nicht (heutigen) binären, cisnormativen Geschlechtervorstellungen entsprochen haben.
Nun zu einer Bibelstelle, in der Jesus von eunouchoi redet. Es handelt sich um Mt 19,11f. An dieser Stelle wird eunouchos in der aktuellen Einheitsübersetzung mit „zur Ehe unfähig“ wiedergegeben. Die Lutherbibel 2017 spricht von „Verschnittenen“. In einer Erklärung in der Übersetzung „Hoffnung für alle“ wird gesagt, dass es sich um zeugungsunfähige Menschen handle. Dem folgenden Zitat voraus gehen Fragen nach Ehe, Ehescheidung und, ob es nicht besser sei, gar nicht zu heiraten. Jesus antwortet vielleicht etwas kryptisch:
„Nicht alle können dieses Wort (eunuchoi) erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Es gibt eunuchoi, die so aus der Mutter Leib geboren sind, es gibt andere eunuchoi, die sind von den Menschen dazu gemacht worden, und es gibt weiterhin eunuchoi, die sich selbst wegen des Reiches Gottes dazu gemacht haben. Wer fähig ist zu verstehen, soll verstehen.“ Mt 19,11f
Was auch immer genau die Aussageabsicht (gewesen) sein mag, mir ist Folgendes wichtig: Die verschiedenen Kategorien von eunouchoi, die genannt werden, werden als existent vorgestellt. Sie werden nicht be- oder gar verurteilt. Allerdings scheint es auch damals für manche Menschen schwer vorstellbar gewesen zu sein, dass es Menschen gibt, die binäre, heteronormative Geschlechtervorstellungen sprengen. „Wer es fassen kann, der*die fasse es.“ Klingt das nicht nach: Auch wenn ihr es nicht versteht, vielleicht auch nicht verstehen wollt, es ist, wie es ist. Kommt damit klar!
Das ist doch wohl einmal eine Ansage!
Und schließlich findet sich in der Apostelgeschichte die Geschichte eines Menschen aus Äthiopien, für den auch das Wort eunouchos verwendet wird, ein hoher Hofbeamter. Dieser Mensch ist auf dem Rückweg von Jerusalem, wo er zu Gott gebetet hat, obwohl er vermutlich nicht jüdisch war. Er liest auf der Fahrt in einer Jesajaschriftrolle. Philippus, einer der sieben Diakone der Jerusalemer Urgemeinde, trifft auf ihn und fragt ihn, ob er denn auch verstehe, was er lese. Philippus legt ihm die Schriftstelle aus. Als sie an Wasser vorbeikommen, fragt der Mensch aus Äthiopien, was denn einer Taufe entgegenstünde. Philippus tauft ihn schließlich.
Wie berührend, wenn wir uns bewusst machen, dass die erste Person, die nach Jesu Tod laut Apostelgeschichte getauft wurde, ein Mensch war, der (a) fremd war in Jerusalem, der (b) wahrscheinlich nicht jüdisch war wie zuerst ja alle Anhänger*innen von Jesus, der (c) kein freier Mensch war, sondern an einem Königshof im Dienst stand, und der (d) – grundsätzlich irgendwie anders war. Eine Hoffnungsvision für mich und vielleicht auch für viele anderen Menschen, die nicht in die kirchlichen und gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen passen. Die Botschaft lautet: Bei Gott gehören auch wir dazu. Und kein Mensch kann uns das absprechen. Weder Päpste, noch Bischöfe, noch irgendjemand sonst!
Das ist heilsam für mich, weil es mir hilft, mich von den verletzenden, ausschließenden und diskriminierenden Haltungen und Äußerungen meiner Kirche zu befreien. Und es erinnert mich daran, dass nicht ich es bin, der aufgrund dessen, wie ich (geschaffen) bin, zur Umkehr gerufen ist, sondern diejenigen, die Normen und vermeintlich vom Himmel gefallene Lehren über die unverletzliche Würde von Menschen stellen.
Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen:
„Als Mann und Frau erschuf er sie!“ Diese Bibelstelle wird häufig als Argument aufgeführt, es könne nur zwei Geschlechter geben, Trans- oder Intersexualität könne nicht existieren usw.
Hierzu ein kurzer Ausflug in die moderne Theologie:
„Als Mann und Frau erschuf er sie!“ ist keine wissenschaftliche Aussage. Genau so wenig wie die Aussage, die Welt sei in 7 Tagen erschaffen worden. Wissenschaftliche Aussagen treffen – wie der Name schon sagt – die Wissenschaften. Sie brauchen dazu keine Bibel. Wer darin eine wissenschaftliche Aussage über Anzahl und Art der Geschlechter sieht, beleidigt beide: Wissenschaften und Bibel.
„Als Mann und Frau erschuf er sie!“ ist auch keine moralische Aussage, im Sinne von: „So sollte es sein und alles andere ist falsch/böse/sündig!“ Die Bibel enthält zwar an anderen Stellen moralische Aussagen (Beispiel: „Du sollst nicht töten!“ „Liebe deinen Nächsten!“).
Aber das hier ist keine derartige Aussage. Die Frage nach Zahl und Art der Geschlechter wurde damals schlichtweg nicht diskutiert.
Zur Verdeutlichung: Die Bibel schreibt auch: Gott erschuf ein Gewölbe über der (flachen) Erde, um das Wasser über dem Gewölbe (=Regenwasser) vom Wasser unter der Erde (=Ozeane) zu trennen. Kein (normaler) Mensch kommt auf die Idee, das sei eine wissenschaftliche Aussage. Und kein Mensch kommt auf die Idee, es sei eine moralische Aussage.
Was für eine Art von Aussage ist „Als Mann und Frau erschuf er sie!“ aber dann? Es ist eine Liebeserklärung. Eine Beziehungsaussage. „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild. Als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau erschuf er sie.“
Der Mensch ist ein Abbild Gottes.
Dort wo er liebt.
Dort wo Sehnsucht ist.
Dort wo Vielfalt herrscht.
Und kein Geschlecht göttlicher ist als ein anderes.
Nicht Anzahl und Art der Geschlechter sind in dieser Bibelstelle im Fokus. Sondern die Tatsache, dass kein Geschlecht heiliger, göttlicher oder richtiger ist als ein anderes. Nicht die Vorstellung, wie Menschen sein sollen, steht hier im Fokus. Sondern die Tatsache,dass wir – so wie uns Gott geschaffen hat – gut sind. Wir alle sind würdig, Abbild Gottes
genannt zu werden. Und das bedeutet: Gott ist Fan von Vielfalt! Und Gott ist (auch) queer.
Impulsgedanken vor dem Schlusssegen
Ich bin nicht möglich, meint Ihr.
Ich bin unmöglich, meint Ihr.
Ich bin fremd in eurem Eindeutigkeitsland,
Ich bin fremd im „entweder-oder“,
Ich bin fremd in der Ordnung, die ihr als „göttliche“ in der Schöpfung verankert seht.
Durch mich verlaufen ständig Grenzlinien.
Ich bin durch Euch zur Zerrissenheit gezwungen,
weil Ihr – nicht Gott – alles geordnet habt.
Fein säuberlich abgelegt in Schubladen.
Einsortiert in ein stiktes Ordnungssystem.
Ein Apotheker*innenschrank mit getrennten Fächern.
Bezeichnet mit euren Namen, mit Euren Definitionen.
Doch ich stehe in keinem Bestimmungsbuch.
Ich bin nicht zu fassen, bin weder männlich noch weiblich noch sonst irgendetwas…
ich bin einfach ich – Gottes Bild – unfassbar!
Eure Bilder, die ihr Euch von mir macht, die andere sich von mir gemacht haben
sie haben sich geirrt!
Ihr irrt Euch, wenn ihr meint, zu wissen wer ich bin und wie ich bin.
Euer Irrtum legt mich fest, verkennt mich, macht mich unsichtbar, schließt mich aus.
Schaut doch hin aber macht euch kein Bild!
Ich bin, wer ich bin“. ————————————————————————————————————————–
Mein herzlicher Dank gilt der wunderbaren Raphaela Soden, die mit ihren inspirierenden Gedanken maßgeblich zur Entstehung dieses Impulstextes beigetragen hat. Es gilt das gesprochene Wort vom 17. Juli 2022.