Der Begriff „Lehrhaus“ bezeichnet eine alte, jüdische Methode des Lernens: Alleine, zu Zweit und dann gemeinsam in der Runde die Texte des Neuen Testaments zu befragen. Wichtig ist das Fragen, damit wir lernen, über unseren Glauben Auskunft geben zu können.

Es gilt die freie Mitarbeit. Jeder kann teilnehmen, wie es seine Zeit erlaubt. Jeder Abend hat ein abgeschlossenes Thema. Es sind keine Vorkenntnisse nötig und es gibt keine Grenzen von Religion, Konfession, Weltanschauung oder Alter.

Magnet Lehrhaus

Ein Abschiedswort von Eberhard Kerlen

 
Eberhard Kerlen

Es gibt die besonderen Momente in unseren Leben, die wir Abschied nennen. Jeder und jede von uns kennt sie. Oft kommen sie plötzlich, zum Beispiel, wenn ein geliebter Freund gestorben ist. Manchmal kommen sie langsam heran, zum Beispiel, wenn die Arbeit im Beruf aufhören wird.

Ich will von einem Abschied berichten, der mir mehr zu schaffen macht, als ich dachte. Es ist der Abschied von meinen beiden „Lehrhäusern“. Eins in der Stadt, zuerst in der Alten Synagoge, dann im Katholischen Stadthaus. Das andere in der Kirche auf der Billebrinkhöhe, die jetzt „Forum“ heißt.

20 Jahre lang haben diese beiden Veranstaltungen im „Alle-14 Tage-Takt“ stattgefunden. Sie diskutierten über Texte der Bibel. In der Stadt aus den fünf Büchern Mose im Alten Testament, die die Juden „Tora“ nennen, darum auch mit jüdischen Kommentaren. Auf der Billebrinkhöhe fast alle Bücher des Neuen Testamentes, mit ganz verschiedenen Übersetzungen.

Den Namen „Lehrhaus“ habe ich geklaut. So nennen die Juden seit Jahrhunderten ihre Diskussionen über Texte aus der Tora und aus dem Talmud (eine Erklärung der Tora). Als ich mit meiner Frau ein halbes Jahr in Jerusalem lebte, habe ich ein jüdisches Lehrhaus miterlebt. Als ich nach Deutschland zurückkam, war mir klar: Das müssen wir Christen und Christinnen auch haben.

Was ist denn das Besondere an einem „Lehrhaus“? Zwei Dinge: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen (bei freiem Eintritt, ohne Bedingungen) bestimmen mit ihren Fragen das Tempo des Gesprächs. „Lehre“ meint: Ich muss Bescheid wissen über meinen Glauben und kann es am besten mit den unterschiedlichsten Menschen entdecken.

Darum wurden es aufregende Jahre für mich. Immer neue Teilnehmer, aber auch ein fester Kern. Fünfzehn waren wir immer, aber auch mehr. Jeder und jede aus dem eigenen Lebenskreis – und das nicht nur aus Essen.

Magnet Lehrhaus – wie wurden die Texte aktuell, wie wurde jede Frage und jede Entdeckung gewürdigt! Und meine Aufgabe als Theologe? Am besten konnte man sie mit der Aufgabe eines Trainers vergleichen. Unsere Diskussionen waren wie ein Mannschaftsspiel. Ich musste gut vorbereitet sein, musste den Urtext im Hebräischen und im Griechischen kennen, musste fair und aufmerksam moderieren.

Was war der Beitrag für unseren christlichen Glauben, für unsere Lehre? Wer das Alte Testament mit seinen lebensnahen Geschichten, mit den Propheten und den Psalmen nicht kennt (und liebt?), wird das Neue Testament, die Grundschrift der Christen, nicht verstehen, wird nicht mit ihr leben.

Auf den Punkt gebracht: Wenn das Wort „Evangelium“ Freudenbotschaft heißt und uns mit Jesus Christus verbindet, in der Lebensausrichtung, dann können wir die drei „V“ erfahren: Vergebung, Vertrauen, Versöhnung.

In der gegenwärtigen, bitteren Menschheitserschütterung mit den vielen Toten, Kranken und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen, die wir oft so leichthin „Corona“ nennen, würde das „Lehrhaus“ uns klarmachen: Vorsicht, wenn zu schnell von der Liebe Gottes geredet wird! Es gibt eben auch die kritische Frage an unseren Lebensstil. Dies ist gemeinsam zu bedenken.

Gab es nicht einen Film oder ein Buch mit dem Titel „So weit die Füße tragen“? Ich muss mit meiner Beteiligung an den Lehrhäusern aufhören, weil meine Füße nicht mehr so stark sind. Dass es das aber in Essen gab, diese Lehrhäuser über viele Jahre, das lag an dem Magnet und war darin einmalig.

Der Magnet bleibt – mein Abschied dauert etwas länger.

Eberhard Kerlen