Sehen und gesehen werden

Mit der Maske habe ich dich gar nicht erkannt.“ „Da musste ich jetzt aber ganz genau hinsehen.“ Viele Male habe ich solche Sätze im letzten Jahr gehört oder selbst gesagt. Das neue unliebsame, aber notwendige Accessoire des Mundnasenschutzes hat unsere Begegnungen verändert. Es ist schwerer geworden, sich auf Anhieb zu erkennen und dem oder der anderen ein Lächeln zuzuwerfen. Durch den Stoff vor dem Gesicht nehmen wir weniger voneinander wahr und es gibt seltener Gelegen-heiten, bei denen wir uns wirklich ansehen.

„Sehen und gesehen werden“. Bei diesem Sprichwort denkt man vielleicht zunächst an die roten Teppiche und Laufstege dieser Welt. An ein überhöhtes Bedürfnis nach Auf-merksamkeit und Anerkennung von manchen Menschen. In diesem Jahr wurde aber spürbar, dass es vielen – vielleicht uns allen – fehlt. Das „Sehen“ im Sinne davon, andere Menschen sehen zu können, sich voneinander inspirie-ren zu lassen und damit über den persönlichen Tellerrand zu blicken.

Ohne Einschränkung zu beobachten und zu entdecken, was außerhalb der eigenen Welt passiert. Und auch das „Gesehen werden“ im Sinne von „Ich werde gesehen und wahrge-nommen“ fehlt uns an vielen Tagen: Das schon von weitem Grüßen, beim Namen nennen, das Zuhören, Mitleid haben, Mitfreuen, das in die Arme fallen, Verständnis zeigen, sich als Teil einer Gruppe fühlen. In einigen Momenten ist das möglich, aber die Sehnsucht nach dem ganzen Paket dieser wunderbaren großen zwischenmenschlichen Kleinigkeiten ist immens. Die Bibel erzählt in einer Geschichte aus dem 1. Buch Mose ganz besonders berührend von der Sehnsucht nach dem „Gesehen werden“. Die Ägypterin Hagar diente als Sklavin dem Erzvater Abraham und seiner Frau Sara. Weil Sara trotz einer göttlichen Zusage anscheinend keine Kinder bekommen kann, sollte Abraham auf Saras Bitte hin mit Hagar ein Kind zeugen. Und tatsächlich wird Hagar von Abraham schwanger.

Daraufhin entwickelt Sara eine große Eifersucht auf das Kind in Hagars Bauch. Sie demütigt ihre Dienerin und quält Hagar in ihrem Zorn so sehr, dass diese in ihrer Not in die Wüste flieht. An diesem trostlosen Ort findet Hagar eine Quelle, an der ihr ein Engel begegnet. Für die Zukunft verspricht der Engel auch Hagar eine große Nachkommenschaft.

Nach diesem aufwühlenden Erlebnis findet Hagar einen besonderen Na-men für Gott: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13) Eine Frau, eine Sklavin und eine Ausländerin ist Hagar, benachteiligt und eben nicht gesehen. Aber sie ist mit dieser Geschichte auch die erste Person, die nicht nur mit Gott redet, sondern einen eigenen Namen für ihn findet. Eine Frau, die von keiner Seite Beachtung fand, sondern im Gegenteil sogar erniedrigt und herabgesetzt wurde. Gott sieht sie und gibt ihr in der Einsamkeit der Wüste ihre Würde wieder und schreibt mit ihr Geschichte.

„Du bist ein Gott, der mich sieht“. In dieser Namensbezeichnung und der Begegnung Hagars stecken der Trost und das Versprechen, dass Gott sich uns in aller Hoffnungslosigkeit zuwendet und uns im Blick hat. In einem Psalmwort wird der liebende Blick Gottes auf uns folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Lebendiger, du hast mich er-forscht und kennst mich. Du weißt, ob ich sitze oder stehe, du verstehst meine Gedanken von fern. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ (Psalm 139, 1-2.5)

Hier glaubt und betet jemand so wie Hagar, dass Gott ganz genau hinsieht, auch wenn wir uns selbst gerade nicht gesehen fühlen. Die Theologin Dorothee Sölle führt zu diesem Psalmvers aus: „Wer bin ich? Die Antwort lautet: Gott kennt mich besser, als ich mich selber kenne, er kennt mich anders, als meine Umwelt mich kennt, länger und tiefer als alle, die etwas von mir wissen. Das bedeutet, dass meine Identität mehr ist, mehr sein kann als das, was jetzt schon von mir bekannt ist.

“In einer Zeit, in der das „Sehen und gesehen werden“ an vielen Stellen zu kurz kommt, tröstet mich das Vertrauen, dass Gottes liebevoller Blick Ihre Pfarrerin Julia OlmesdahlTag und Nacht auf uns ruht. Die Sehnsucht nach echter Begegnung ist damit nicht genommen, aber ein Ort gegeben, an dem ich trotz allem sicher und geborgen bin. „Du bist ein Gott, der mich sieht“. So erlebte Hagar Gott und ging mit dieser Gewissheit mutig in ihr altes Leben zurück. Als ob sie sagen würde: „Wenn ich gesehen bin, dann kann ich meinen Blick auch wieder weiten.

“Weil sie wusste, dass sie in Würde angesehen ist, konnte sie wieder aufsehen und dem Leben begegnen. Für diese herausfordernden Monate wünsche ich Ihnen, dass der liebende Blick Gottes für Sie zum Halt wird, gerade wenn Sie sich einsam und nicht gesehen fühlen. Und dass aus diesem Halt heraus immer wieder die Kraft entsteht, den Blick zu heben und das Leben in die Hand zu nehmen. Sich umzusehen und zu entdecken, was trotzdem Schönes zu sehen und entdecken ist. In sich selbst, in anderen und in allem, was uns umgibt.

Ihre Pfarrerin Julia Olmesdahl